Digitaler Blick in die Vergangenheit und Vision für die Zukunft

Am 5. Mai dieses Jahres, um die bewegenden Momente der Besinnung und Erinnerung fortzusetzen, die während der Gedenkfeiern zur Befreiung der Lager geteilt wurden,[1] empfing der französische Botschafter in Deutschland, S.E. François Delattre, im Pariser Platz Vertreter der Gedenkvereine, die in Ravensbrück und Sachsenhausen präsent waren.

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Französische Freundschaftsgruppe Ravensbrück am Schwedter See — Foto © Joël-François Dumont

Für die letzten Überlebenden dieser nazi Hölle war diese Pilgerreise zu Ehren all dieser deportierten Frauen zweifellos der „letzte Kampf“, um nicht zu sagen, ein letzter Kampf für die Erinnerung… Nach einem herzlichen Empfang im Amphitheater gab es zwei große Überraschungen: „Sie sind hier zu Hause“.

Amicales de Ravensbrück & de Sachsenhausen — Photo © Joël-François Dumont
Französische Freundschaftsgruppe Ravensbrück am Schwedter See — Foto © Joël-François Dumont
Amicales de Ravensbrück & de Sachsenhausen — Photo © Joël-François Dumont
Empfang und Familienfoto in der Botschaft
François Delattre, ambassadeur de France — Photo © Joël-François Dumont
80 Jahre nach den Ereignissen bleibt die Erinnerung das Fundament unseres europäischen Zusammenhalts.“ (François Delattre)

Links Françoise, Tochter von Odette Métais-Marchelidon, die nach Ravensbrück deportiert wurde, und Lucien, beide Widerstandskämpfer, „politische Häftlinge“, nach Neuengamme deportiert und anschließend nach Sachsenhausen. Rechts Lilli Leignel, geborene Keller-Rosenberg, mit 11 Jahren nach Ravensbrück deportiert und anschließend nach Bergen-Belsen überstellt.

von Joël-François Dumont — Berlin, den 7.Mai 2025 —

Erste Überraschung: eine Vorpremiere in der Botschaft

Es kommt selten vor, daß eine Botschaft dem Filmfestival in Cannes vorausgeht, aber in Berlin war dies der Fall. Wir durften den neuesten Kurzfilm von Wim Wenders, „Schlüssel zur Freiheit“, sehen. Das hätte die berühmte Berlinale neidisch machen können!

Ein unveröffentlichtes Dokument

Amphithéâtre de l'ambassade de France à Berlin — Photo © Joël-François Dumont
Eine spannende Debatte für die Schüler des Lycée Voltaire, die sich unter die „Ehemaligen“ mischten. — Foto © JFD

Eine Exklusivität, die kurz vor Beginn des Festivals an der Croisette nicht besser hätte sein können! Unveröffentlichte Bilder von der Unterzeichnung der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Streitkräfte. Ein remastertes Archivdokument, das in der Nacht des 7. Mai 1945 in Reims im Franklin-Roosevelt-Gymnasium, das damals zum Hauptquartier von General Eisenhower umfunktioniert worden war, gedreht wurde. Auf der großen Leinwand, als wäre man selbst dabei gewesen! Mit einem hochauflösenden Bild in außergewöhnlicher Qualität.

Wim Wenders AI ES ® Photo M

Der berühmte deutsche Regisseur Wim Wenders wird 80 Jahre später dorthin reisen, um uns seine Sicht-weise zu vermitteln, die angesichts der aktuellen internationalen Lage und der erneuten Bedrohung unserer hart erkämpften Freiheit auf beiden Seiten des Rheins geteilt wird.

Ein kleines Meisterwerk in techni-scher Hinsicht. In menschlicher Hinsicht ein Zeugnis seines gesamten Lebens, auf Französisch, aus der Perspektive eines Mannes mit Sinn für Bilder.

Wim Wenders — Photo © IA / UFE Berlin

Wim Wenders hat diese Zeit von 1945 bis 2025 intensiv erlebt. Er erlebte nacheinander die Zeit, in der es zunächst galt, den Zusammenbruch und das Elend zu überstehen, den Wiederaufbau, um ein neues Deutschland aufzubauen und die deutsch-französische Versöhnung zu organisieren. Nicht zu vergessen der Fall der Mauer 1989 und die darauf folgende Wiedervereinigung, die die Tür zu einem neuen Europa öffnete, in dem die mittel- und osteuropäischen Länder endlich von ihren Fesseln befreit wurden. Ein Europa, das zu einer der größten Wirtschaftsmächte der Welt geworden ist und 80 Jahre Frieden und Wohlstand erlebt hat. Ein Frieden, der zwar von den Vereinigten Staaten, unseren vermeintlichen Verbündeten, bewaffnet und verteidigt wurde… Wie könnte man das in Frage stellen, was unser Leben ausgemacht hat, den Aufbau unserer Freiheit, Stein für Stein, eine Freiheit, die heute erneut durch Totalitarismus bedroht ist?

Zweite Überraschung: die Erinnerung und die deutsch-französischen Beziehungen

Podiumsdiskussion in der französischen Botschaft unter der Leitung von Julien Acquatella – Foto © JFD
Podiumsdiskussion in der französischen Botschaft unter der Leitung von Julien Acquatella – Foto © JFD

Die zweite Überraschung bereitete uns Julien Acquatella, der in der Botschaft für Fragen der Erinnerung zuständig ist und eine Podiumsdiskussion zum Thema „Die Rolle der Erinnerung in den deutsch-französischen und europäischen Beziehungen“ organisiert hatte. Nach so vielen Jahren, in denen man glaubt, wenn nicht alles, so doch zumindest zu wissen, daß man nichts Neues mehr lernen kann, in einem solchen Austausch über die deutsch-französischen Beziehungen. In diesem Hörsaal, der an die Bänke einer Universität erinnert und an diesem Tag von Schülern des Lycée Voltaire und überwiegend „Ehemaligen“ geteilt wurde, hörte ich im Laufe der Debatte einen Gedanken, der es meiner Meinung nach verdient, weitergegeben und von seinem Urheber sorgfältig analysiert zu werden.

Das deutsch-französische Gedächtnis als Vorbild

Diese Überlegung verdanke ich Géraldine Schwarz, Journalistin und Autorin zahlreicher Standardwerke über Frankreich und Deutschland, die nichts mit den abgedroschenen Klischees vom „Ich liebe dich, ich liebe dich nicht“ oder vom „deutsch-französischen Paar“ zu tun hat. Eine Überlegung, die ich leider nicht notiert habe.

Armee General François Mermet, Ehrenpräsident der AASSDN, Géraldine Schwarz und Hedy Belhassine – Foto © JFD
Armee General François Mermet, Ehrenpräsident der AASSDN, Géraldine Schwarz und Hedy Belhassine – Foto © JFD

Ihrer Meinung nach haben die Architekten der Annäherung zwischen Frankreich und Deutschland, damit diese Versöhnung von Dauer ist, großen Wert darauf gelegt, die deutsch-französische Erinnerung auf eine ganz neue Art und Weise aufzuarbeiten. Géraldine Schwarz, die es verstanden hat, unsere gemeinsamen Wurzeln und Unterschiede mit unvergleichlichem Talent zu erforschen, hat mir mit dieser Andeutung das Gefühl gegeben, dass ich sehr lange etwas Wichtiges übersehen habe, über das es sich lohnt, nachzudenken.[2]

Vielleicht knüpft sie damit an die Analyse eines französischen Hauptmanns an, der 1916 in Douaumont verwundet und gefangen genommen wurde und in einem Militärkrankenhaus in Mainz wieder zu Bewußtsein kam, bevor er in das Gefangenenlager Osnabrück in Deutschland gebracht wurde.

32 Monate einer strapaziösen Gefangenschaft“ führten diesen Hauptmann, einen gewissen Charles de Gaulle, „nacheinander nach Neisse, Sczucsyn, Ingolstadt, Rosenberg, Passau, Wülzburg und Magdeburg“. … „Als Gefangener las de Gaulle griechische und lateinische Autoren, studierte die deutsche Presse und organisierte, sobald er konnte, historische oder philosophische Vorträge für seine Mitgefangenen, den Kommandanten Georges Catroux und den späteren Marschall Tuchatschewski.“[3]

Da Hauptmann de Gaulle als Militär seine Gefangenschaft nicht akzeptieren wollte, „das Schlimmste für einen französischen Offizier“, unternahm er mehrere Fluchtver-suche, um an die Front zurückzukehren. Fünf Mal floh er und wurde jedes Mal wieder gefaßt, was ihm die Festung Wülzburg und anschließend das „Rachelager“ Ingolstadt in Bayern, Fort 9, das für Wiederholungstäter und Unbeugsame (Ein echter Gallier) reser-viert war, bevor er schließlich mit dem Waffenstillstand vom 11. November 1918, der den Krieg beendete, freigelassen wurde.

Hauptmann Charles de Gaulle in 1915 — Alle Rechte vorbehalten

Capitaine de Gaulle en 1915 — Photo DR

Derselbe Hauptmann, der als General nach der Befreiung seine Nichte Geneviève vom Ostbahnhof abholte, als sie aus Ravensbrück zurückkehrte.

Eine gewisse Komplementarität zwischen Franzosen und Deutschen

Wer hätte 1924 besser als De Gaulle die Komplementarität zwischen Franzosen und Deutschen analysieren können?[4] Als Nachbarn ist die Wahl einfach: Entweder man versteht sich oder man bekämpft sich, wobei man sich bewusst sein muss, daß es schwierig ist, gleichgültig zu bleiben, wenn man sich so nah ist.

Wer hätte 1924 besser als De Gaulle die Komplementarität zwischen Franzosen und Deutschen analysieren können?[4] Als Nachbarn im Leben ist die Wahl einfach: Entweder man versteht sich oder man bekämpft sich. Das ist nicht kompliziert. Nachdem er gesagt hatte, dass es schwierig sei, gleichgültig zu bleiben, wenn man sich so nahe ist.

Glücklicherweise wird es immer Frauen und Männer von Format geben, die diese Beziehung verteidigen und weiterführen,[5] die im Laufe der Zeit ihren „exotischen Charakter“ verlieren und sich auf beiden Seiten des Rheins fest etablieren wird.[6]

Joël-François Dumont

Siehe auch: « Regard numérique sur le passé et vision d’avenir » — (2025-0507)

[1] Siehe „Die Befreiung der Lager Ravensbrück und Sachsenhausen“ – (2025-0505) und „Ein Morgen in Ravensbrück“ – (2025-0512).

[2] Siehe „D’où nous venons, ce qui nous unit, ce qui nous divise“ (Woher wir kommen, was uns verbindet, was uns trennt), Éd. Flammarion (2024). « In einer Zeit, in der Orientierungspunkte verloren gehen und tiefe Meinungsverschiedenheiten über die Grundlagen unserer Gesellschaften bestehen, gibt dieser spannende und sehr klare Bericht unserer Gegenwart einen Sinn und belebt die Bande, die uns verbinden. Die Autorin erzählt von Europa mit seinen Schattenseiten und seinen Lichtblicken, von den Ambivalenzen dieses großen menschlichen Abenteuers, aus dem der Leser ebenso viel Inspiration wie Warnungen schöpfen kann. »

[3] Fondation Charles de Gaulle: „Le capitaine de Gaulle en captivité à Sczucszyn, 1916

[4] „La discorde chez l’ennemi“, Éd. Berger-Levrault (1924).

[5] « Es lebe die deutsch-französische Freundschaft ! » Rede von S.E. François Delattre anläßlich des traditionellen Freundschaftsfestes zwischen Frankreich und Deutschland, das von der UFE Berlin am 13. Juli 2023 im Casino „Sergent Brocard“ organisiert wurde.

[6] Gespräch mit Brigitte Sauzay nach dem Gipfeltreffen in Weimar (September 1997).

Zum 80. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager und der Kapitulation Nazi-Deutschlands siehe: